Nichts hat mich in diesem Jahr bisher längerfristig begeistern können und dann kommt da plötzlich dieser Typ um die Ecke: Bo Burnham. Er war mir vorher nur als Regisseur von Eighth Grade (ein liebenswertes Coming-of-Age Comedy-Drama, gibt es bei Netflix, sehr empfehlenswert) bekannt und ich wusste zumindest noch, dass er mal Comedy gemacht hat. Jetzt hat er auf Netflix ein neues Comedy-Special namens Inside veröffentlicht, dass er im Verlauf des letzten Jahres alleine in einem Zimmer produziert (und gefilmt, geschnitten, editiert, ..) hat. Ich habe mir das 87-minütige Kammerspiel, welches von Kommentaren zur Gesellschaft, Politik, Technik, der Welt, witzigen Absurditäten und der Tristesse der Isolation der letzten Monate handelt, viermal(!) innerhalb der vergangenen Woche angesehen. Inside ist ein brillantes Selbstporträt aus Musikstücken, kleinen Stand-Up-Comedy-Einlagen und filmischer Finesse. Burnham schafft es, all die Gefühle und Gedanken der letzten Monate in ein Special zu drücken, das zu den Zuschauenden spricht. Lange fühlte ich mich nicht so verstanden und verbunden mit einer Kunstfigur.
Mr. Burnham
Bo Burnham ist ein Multitalent: Komiker, Musiker, Schauspieler, Filmemacher und noch so viel mehr. Bekannt wurde er durch komödiantische Musikstücke auf YouTube, bevor seine Karriere als Liedermacher und Stand-Up-Comedian startete. Sein Stil ist mehr als nur simples Witzeerzählen, sondern geht eher in Richtung eines humoristischen Musikers. Der eigenwillige, stumpfe und manchmal absurde Humor, die Selbstbeobachtungen und der Mut auch Themen wie (eigene) Depressionen und Ängste zu kommentieren. Wenn der Zuschauende sich in Sicherheit wiegt und über einen Witz lacht, ist Burnham schon zwei Schritte voraus und hebt alles hintenrum auf eine Metaebene.
In Inside erzählt er davon, dass er Panikattacken auf der Bühne bekam, weshalb er seine Karriere dahingehend vorerst beendete. Er arbeitete an sich und widmete sich der Schauspielerei und dem Filmemachen. 2020 war bereit sich wieder auf die Bühne zu stellen und die erste Show war auch schon angekündigt, bis alles ganz anders kam und er Inside produzierte.
Inside – Comedy-Special?
Ein wirkliches Comedy-Special, wie es vielerorts angeteast wird, ist Inside nicht unbedingt. Auch Netflix weiß für die Vermarktung nicht so recht, was sie damit anfangen sollen. Es fängt zwar wie ein Comedy-Special an, driftet dann aber nach und nach ab. Wo anfangs noch FaceTime-Anrufe mit den Eltern und Instagram-Accounts weißer Frauen thematisiert werden, ringt er im Verlauf des Specials damit, es überhaupt fertig zu bekommen.
Seine Psyche und die Situation der Isolation und das Gewicht der Absurditäten der (Online-)Welt machen ihm zu schaffen. So wendet er sich nach und nach auch ernsteren und sehr persönlichen Themen zu, mal humoristisch, mal kühl und direkt. So spiegelt er die Isolation der Pandemie auf die digitale Welt oder "feiert" seinen 30. Geburtstag. Anfang 2020 wollte Burnham wieder als Comedian auftreten. Wenn er diese Geschichte im emotionalen Höhepunkt "All Eyes on Me" beschreibt und abrundet mit dem Satz: "And then, the funniest thing happened.." und die Lacher eingespielt werden, trifft das einfach nur ins Herz und hinterlässt einen schmerzenden Krater.
Das ist Kunst
Die musikalische Untermalung ist sorgfältig ausgewählt. "How the World Works" ist ein Kinderlied, in dem Burnham die Welt erklärt, bis ihn seine Sockenpuppe unterbricht und erzählt, wie die Welt wirklich ist. "Problematic" ist eine Disco-Pop-Nummer mit Fitnessmusikvideo, in der er der Kritik zuvorkommt, die ihm in Zukunft seine 'problematische Art' vorwerfen könnten. "Funny Feeling" ist Folk-Pop, der am besten gespielt wird, wenn die Welt gerade untergeht.
Filmisch sind da einige geniale Einfälle bei und das ganze Werk strotz nur so vor Kreativität. Die clevere Lichtsetzung, der Einsatz von Beamern, die Kamerawinkel, die Zooms, das Spiel mit dem Seitenverhältnis, die bewusst gewählte musikalische Untermalung der Themen, die eingespielten Lachern. Gefühlt hat sich Burnham bei allem etwas gedacht und überall eine kleine Botschaft versteckt. Das ist große Kunst. Es wirkt manchmal wie ein Videotagebuch, aber wenn man Burnham kennt, weiß man: "Art is a lie, nothing is real."
five stars out of five
Wenn man einen Film gesehen haben muss, der diese enge der Isolation und die Auswirkungen auf die Psyche der letzten Monate einfängt, dann ist es Inside. Kritische, pessimistische Blicke auf die Welt, auf das Überangebot im Internet und die Auswirkungen, das soziale Miteinander im digitalen Zeitalter, mal zum Lachen, mal zum Weinen. So viele witzige Einfälle, Gänsehautmoment und Banger zum Mitsingen, die einen dann doch schnell wieder in die Wirklichkeit holen. Insgesamt einfach ein Meisterstück, das sehr tief blicken lässt und mir aus der Seele spricht. Es ist super schwer das alles in Worte zu fassen, aber gerade das ist auch das Schöne an der Kunst. Man muss das einfach selbst erlebt haben. 5/5
Ab dem 10.06.21 gibt es die Songs auch auf den gängigen Streamingdiensten zu hören. Meine Favoriten (auch wenn eigentlich alles geil ist): "All Eyes on Me", "Funny Feeling", "Problematic". Sich nur das Album durch die Ohren zu ziehen, zählt aber nicht. Die volle Wirkung entfaltet sich erst mit den Videos. Also ab zu Netflix (#notsponsored)! Seine frühere (ebenfalls sehr empfehlenden) Specials findet ihr teilweise ebenfalls im Netz: "Make Happy" bei Netflix, "what." bei YouTube.
Weiterlesen:
- "Bo Burnham And The Online Condition" (Charlie Warzel)
- 30, männlich, depressiv, macht Comedy für Einsame (Sebastian Maas, Spiegel.de)
- 27 details and references you might have missed in Bo Burnham’s new Netflix special 'Inside' (Kim Renfro, Insider.com)
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